ask, Bruno Rütsche
Ende Juli fand in Bogotá die Abschlusssitzung und Urteilsverkündung des Ständigen Tribunals der Völker – Kapitel Kolumbien statt. Ein Bericht von Bruno Rüsche von der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien – einer der Richter des Tribunals.
Atánquez, Sierra Nevada de Santa Marta, 18./19. Juli 2008 und Bogotá, 21.-23. Juli 2008
Geschichte und Legitimität des Ständigen Völkertribunals
Das Ständige Völkertribunal entstand 1979 in der Nachfolge der Russel Tribunale zu Vietnam (1966-67) und zu den Militärdiktaturen Lateinamerikas (1974-76). Es will die Rechte der Völker und all jene Situationen sichtbar und rechtlich einforderbar machen, bei denen Grundrechte der Menschheit massiv verletzt werden, ohne dass sie national oder international geahndet werden. In den 28 Jahren seiner Existenz hat das Ständige Völkertribunal in 32 Sessionen den Kampf der Völker gegen schwerwiegende Verletzungen der Grundrechte, wie die Verweigerung der Selbstbestimmung, ausländische Invasionen, neue Diktaturen, Wirtschaftssklaverei und die Zerstörung der Umwelt angeklagt.
Die 33. Session des Völkertribunals befasste sich mit den Verletzungen grundlegender Rechte durch multinationale Unternehmen in Kolumbien.
33. Session – Kapitel Kolumbien: Multinationale Unternehmen und die Rechte der Völker in Kolumbien
Das Völkertribunal akzeptierte im Jahr 2005 die von einer breiten und repräsentativen Koalition von kolumbianischen Bewegungen und Organisationen eingereichte Klage und Bitte zur Durchführung eines Völkertribunals Kapitel Kolumbien. Dieses Kapitel widmete sich der Untersuchung der gewaltsamen Durchsetzung der Interessen von multinationalen Unternehmen über die Rechte der Völker und die Menschenrechte hinweg. Im Laufe der Anhörungen wurden Anklagen gegen 43 Unternehmen erhoben.
Eröffnet wurde dieses neue Kapitel des Ständigen Völkertribunals im Oktober 2005 mit einer Pre-Audienz in Bern zu Nestlé. Danach folgten fünf weitere öffentliche Anhörungen zu folgenden Themen: Nahrungsmittelkonzerne (Bogotá, 1./2. April 2006, u.a. zu Nestlé, CocaCola und Chiquita Brands), Bergbau (Medellin, 10./11. November 2006, u.a. zu Glencore, Xstrata, Holcim, Drummond), Biodiversität (Cacarica, 25./26. Februar 2007, u.a. zu Multifruit, Del Monte, Maderas del Darién und Urapalma), Erdölförderung (Bogotá, 3.-5. August 2007, u.a. zu OXY, BP, Repsol YPF, Petrominerales und Ecopetrol), öffentliche Dienstleistungen (Bogotá, 7./8. April 2008, u.a. zu Unión Fenosa, Endesa, Aguas de Barcelona, Suez) und zum Genozid an den indigenen Völkern (Sierra Nevada de Santa Marta, Atanquez, 18./19. Juli 2008).
Die öffentliche Anhörung zum Genozid an den indigenen Völkern
Im Vorfeld der Schlusssession fand am 18. und 19. Juli 08 in Atanquez, in der Sierra Nevada von Santa Marta im Territorium der Kankuamos die öffentliche Anhörung zum Genozid an den Indigenen statt. Dieser Session waren fünf Voranhörungen in verschiedenen Regionen Kolumbiens zur Situation der indigenen Völker voran gegangen.
Das Tribunal stellte u.a. fest, dass „die Regierung Kolumbiens eine Politik durchsetzt, welche im Dienste der Interessen der grossen multinationalen Unternehmen steht. Das Resultat ist die Verletzung der Rechte der indigenen Völker und die Durchsetzung von Grossprojekten zur Ausbeutung von Bodenschätzen und Rohstoffen, von agroindustriellen Komplexen, von Tourismus- und Infrastrukturprojekten, welche in schwerster Weise die indigenen Völker in Mitleidenschaft ziehen“.
28 indigene Völker sind aufgrund dieser Politik in Kolumbien akut vom Aussterben bedroht. Die Zahl der Morde an indigenen Führungsleuten hat sich seit der Amtsübernahme von Präsident Uribe praktisch verdoppelt: 146 Indigene – darunter zahlreiche Führungskräfte und spirituelle Autoritäten – werden durchschnittlich pro Jahr ermordet. 8% der indigenen Bevölkerung Kolumbiens wurden gewaltsam vertrieben und damit ihrer engen Verwurzelung mit ihrem Territorium – der Mutter Erde – beraubt. Oft bedeutet die Vertreibung den Tod als indigene Gemeinschaft und damit einen eigentlichen Ethnozid.
Viele indigene Gemeinschaften befinden sich in einer Art Belagerungszustand durch die Präsenz bewaffneter Akteure, d.h. der Armee, oft im Verbund mit den Paramilitärs, oder der Guerilla. Trotz der formellen Demobilisierung der paramilitärischen Verbände wurde am Tribunal wiederholt angeklagt, dass die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Strukturen des Paramilitarismus intakt geblieben sind. Der Kampf um die territoriale Kontrolle und die Ausbeutung der Bodenschätze und natürlichen Rohstoffe macht die indigenen Völker zur Zielscheibe gewaltsamer Übergriffe.
Obwohl in der Verfassung Kolumbiens und in den von Kolumbien unterzeichneten internationalen Abkommen die Rechte der indigenen Völker breit verankert sind, werden diese Rechte ständig, massiv und systematisch aufs schwerste verletzt. Alle diese Rechtsverletzungen bleiben in völliger Straflosigkeit.
Das Ständige Völkertribunal erinnert in seinem Urteil daran, dass das Statut von Rom, welches zur Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes führte, im Artikel 7b folgendes festhält: „Die Ausrottung beinhaltet die absichtliche Durchsetzung von Lebensbedingungen, die Vorenthaltung des Zugangs zu Lebensmitteln und Medikamenten etc., welche darauf abzielen, die Zerstörung eines Teils der Bevölkerung herbei zu führen.“
Das Ständige Völkertribunal kommt zur folgenden Schlussfolgerung:
„Das Tribunal erachtet die allgemeinen und generalisierten Verletzungen der kollektiven und individuellen Rechte der indigenen Völker, wie sie an dieser öffentlichen Anhörung zum Ausdruck kamen, als äusserst schwerwiegend.
Obwohl die kolumbianische Verfassung von 1991 den indigenen Völkern Grundrechte wie das Recht auf Identität und kulturelle und territoriale Integrität, das Recht auf Mitbestimmung und vorgängige Konsultation, auf die kulturelle Selbstbestimmung und politische, rechtliche, administrative und finanzielle Autonomie verleiht – wobei viele dieser Rechte in internationalen Abkommen verankert sind, welche von der kolumbianischen Regierung unterzeichnet und ratifiziert wurden – (…) haben die Anhörungen des Völkertribunals in den indigenen Territorien die Verletzung der Mehrheit dieser Rechte klar aufgezeigt. Besonders bedeutsam ist, dass die Mehrzahl dieser Verletzungen die Konsequenz von Politiken und Entscheiden der Regierung Kolumbiens selber sind, deren Haltung völlig unvereinbar ist mit der Verpflichtung zum Schutz der eigenen Bevölkerung, die indigenen Völker miteingeschlossen.“
Schlusssession des Ständigen Völkertribunals zu multinationalen Unternehmen und den Verletzungen der Rechte der Völker in Kolumbien, Bogotá, 21. – 23. Juli 2008
Insgesamt wurden gegen 43 Unternehmen Klagen eingereicht. Alle Unternehmen wurden schriftlich gebeten, zu den Anklagen Stellung zu nehmen. Sechs Unternehmen haben davon Gebrauch gemacht. Zwei Unternehmen haben sich gegen die Anschuldigungen mit Gegenargumenten verteidigt. Vier Unternehmen haben in ihrer Antwort angeführt, dass sie die juristische Kompetenz des Völkertribunals nicht anerkennen, sich an die geltenden Gesetze halten und freiwillige Verpflichtungen (wie z.B. den Global Compact) einhalten. Ebenfalls wurden die Botschaften der Länder informiert, in denen die Hauptsitze der angeklagten Multis sind. Keine der Botschaften hat reagiert.
Die Anklagen wurden auch dem kolumbianischen Präsidenten unterbreitet. Auch hier gab es keine Reaktion.
Präsidiert wurde die Schlusssession vom argentinischen Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel. Das Richtergremium war aus zwölf Persönlichkeiten zusammengesetzt, einige davon Professoren in Menschenrechten und internationalem Recht, andere langjährige MenschenrechtsaktivistInnen. Im Richtergremium war auch die Arbeitsgruppe Schweiz – Kolumbien ask mit Bruno Rütsche vertreten, dies in Würdigung der langjährigen, kontinuierlichen Menschenrechtsarbeit der ask und ihrer grossen Anstrengungen zur Verteidigung der Rechte und zur Verbesserung der Lebenssituation der Arbeiter und der Bevölkerung insgesamt, welche durch die Tätigkeit multinationaler Unternehmen mit Sitz in der Schweiz betroffen sind. Insbesondere betrifft dies Nestlé, Holcim, Glencore und Xstrata.
Eröffnet wurde die Schlusssession mit einer Schweigeminute für Eduardo Umaña Mendoza, Mitglied des Völkertribunals und kolumbianischer Rechtsanwalt, welcher am 18. April 1998 in seinem Büro ermordet wurde. Mit ihm wurde allen Führungspersonen und Mitgliedern von Gewerkschaften und sozialen Organisationen gedacht, welche ihre gewaltfreien Anstrengungen zur Verteidigung ihrer legitimen Rechte mit dem Leben, mit der Vertreibung oder mit dem Exil bezahlt haben.
Die Rolle der multinationalen Unternehmen in Kolumbien
Die Anhörungen ermöglichten den Organisationen der Opfer die Informationen öffentlich zu machen, die nie in den Massenmedien erscheinen: Den modus operandi der Multis; ihre enorme Rentabilität, ihr verantwortungsloser Umgang mit Mensch, Umwelt und Natur; die stete Veränderung ihrer äusseren Erscheinung und die Gründung von Tochterfirmen, um so ihrer Verantwortung zu entgehen; den Kapitalabfluss; die Verfolgung und Auslöschung von Gewerkschaften; das illegale und gewaltsame Eindringen in indigene Territorien; ihr finanzieller Beitrag an die kolumbianischen Streitkräfte und die Inanspruchnahme des bewaffneten Schutzes ihrer Anlagen; die geheime Zusammenarbeit mit den paramilitärischen Verbänden; die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen u.a. durch die massive Anstellung von Temporärarbeitenden; den Verkauf verunreinigter Produkte mit gesundheitlichen Schäden für die Konsumenten; etc.
Ermöglicht wurden und werden diese Mechanismen aufgrund legaler Lücken, meist aber aufgrund der Durchsetzung von Politiken multinationaler Finanzinstitute wie dem Internationalen Währungsfonds IWF, der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank oder der Erarbeitung von Gesetzen durch die multinationalen Unternehmen selber – wie im Fall des Bergbaugesetzes – mit dem Ziel, die Freiheit des Kapitals durchzusetzen.
Das Tribunal erinnert in seinem Urteil daran, dass bereits in den 50er Jahren eine US-Kommission die Entvölkerung des Landes und die offensive Urbanisierung als Strategie vorschlug. Der technische Berater Lauchlin Currie meinte: „Der Krieg kann dabei die Rolle eines raschen Umsiedlungsprogramms erfüllen.“ Rückblickend muss heute festgestellt werden, dass sich dieses Entwicklungsmodell mit extremer Gewalt durchgesetzt hat.
In den Jahren 1978-1985 wuchsen im Rahmen der Globalisierung der Wirtschaft – ermöglicht durch neue Technologien – die ausländischen Investitionen in Kolumbien um das 10-fache. Hauptinvestitionsbereiche waren der Erdöl- und Bergbausektor. Einher gingen diese Investitionen mit dem Beginn der systematischen Gewalt des Paramilitarismus, dem Staatsterrorismus und ohne jegliche demokratische Kontrolle.
In den 90-er Jahren wurden verschiedenste Gesetze entscheidend abgeändert, um den Ausseninvestitionen noch bessere Bedingungen zu verschaffen. In diesem Jahrzehnt erfolgt ein Eindringen ausländischer Kapitalien in neue Bereiche: Bankwesen und Finanzsektor, öffentliche Dienstleistungen und Industrie. Die Investitionen im Erdöl- und Bergbaubereich halten zudem an. Zwischen 1990 und 1997 wachsen die Ausseninvestitionen von 500 Mio. USD auf 6,966 Mrd. USD, d.h. um 1300%.
Trotz dieses enormen Zuwachses an Ausseninvestitionen und der Durchdringung der kolumbianischen Wirtschaft durch multinationale Konzerne, heisst es in einem Bericht der US-Botschaft von 1996: „Der Krieg hat das Vertrauen der Investoren untergraben.“ Obwohl diese Behauptung in keiner Weise mit der Realität übereinstimmte, führte sie zu einer neuen Politik der kolumbianischen Regierung mit dem Bestreben, den Ausseninvestitionen Sicherheit, Vertrauen und Stabilität zu garantieren. Der Staat stellte sich in den Dienst der Multis. Augenfälligste Konkretisierung dieser Strategie ist die Politik der demokratischen Sicherheit wie auch der Plan Colombia, welcher zusätzlich die Erhöhung der direkten militärischen Einflussnahme der USA in Kolumbien ermöglichte – und damit die Sicherung wichtiger Rohstoffquellen. In dieser Phase wurden zahlreiche noch verbliebene staatliche Unternehmen privatisiert und es kam zu einem weiteren explosiven Anstieg der Ausseninvestitionen. Im Jahr 2005 erreichten sie 10,085 Mrd. USD. Parallel dazu stieg der Kapitalabfluss der Multis ins Ausland, welcher im Jahr 2007 die Summe von 6,535 Mrd. USD erreichte.
Dieser Ausverkauf der Bodenschätze, Rohstoffe und der staatlichen Unternehmen – viele davon äusserst rentabel und florierend – war von enormer Korruption begleitet. Nach einer Weltbankstudie soll die staatliche Korruption in Kolumbien jährlich eine Höhe von rund 2,8 Mrd. USD erreichen.
Das Eindringen in die Ausbeutung der Ressourcen und Bodenschätze, die Markt- und Infrastrukturübernahme, die Übernahme von Banken und Finanzinstituten durch multinationale Unternehmen war begleitet von brutaler Gewalt gegen Arbeitende – insbesondere die gewerkschaftlich organisierten – und gegen die Bevölkerung allgemein. Die Rechte der Arbeitenden – in jahrzehntelangen Anstrengungen erkämpft – wurden mit einem Schlag zunichte gemacht. Im Urteil des Völkertribunals wird festgehalten: „Der Terror inner- und ausserhalb der Unternehmen wurde durch die Aktion der paramilitärischen Gruppen und der staatlichen Sicherheitsdienste vervollständigt, welche einen Genozid verübten, welcher in rund 20 Jahren 4’000 GewerkschaftlerInnen das Leben kostete, zur Vertreibung von mehr als 4 Mio. Menschen führte. Weitere 5 Mio. Menschen verliessen in diesem Zeitraum das Land. Viele weitere erlitten Attentate, willkürliche Verhaftungen, Folter und Todesdrohungen. In diesem Rahmen des Terrors wurden die temporäre Anstellung und das ‚outsourcing‘ von Arbeit eingeführt und es kam zu Arbeitsformen, die als Halbsklaverei bezeichnet werden können. 32% der Arbeitenden verfügen heute über keinerlei Arbeitsvertrag, 60% sind im informellen Bereich tätig und 44% haben keinerlei Zugang zu sozialer Sicherheit.“
Das Tribunal ist sich bewusst, dass dieses Vorgehen nicht auf Kolumbien beschränkt ist. „Weltweit hat die Logik der globalisierten Wirtschaft zu einer Beschleunigung der Kapitalströme und der Akkumulationsprozesse geführt, wobei die Wirtschaft allein auf die 20% der Weltbevölkerung ausgerichtet ist, welche aufgrund ihrer Kaufkraft in der Lage ist, die von den multinationalen Unternehmen produzierten Güter und Dienstleistungen zu konsumieren. Nach einer Studie der FAO hat dies weltweit allein im Jahr 2007 weitere 50 Mio. Menschen in den Hunger getrieben. Es ist zudem eine Tatsache, dass das internationale Recht immer mehr den Interessen der multinationalen Unternehmen angepasst wird, was vor allem in der Welthandelsorganisation WTO, aber auch im IWF und der Weltbank ihren Niederschlag findet.“
Das Tribunal weist auch darauf hin, dass viele der angeklagten Unternehmen auch in anderen Ländern der Welt ähnlich vorgehen. „So haben sie in der Vergangenheit die Militärdiktaturen Lateinamerikas unterstützt. In Indonesien haben Ölpalmunternehmen zur Herstellung von Agrodiesel und Holzunternehmen 80% des ursprünglichen Regenwaldes abgeholzt und 6 Mio. Menschen vertrieben. Im Kongo forderten zwei aufeinander folgende Krieg 4 Mio. Menschenleben. Dabei ging es grösstenteils um die Kontrolle über Bodenschätze und Mineralien, welche von multinationalen Unternehmen ausgebeutet werden, deren Namen auch in Kolumbien auftauchen: Anglo Gold Ashanti, Angloamerican, Glencore, Xstrata.“
Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen der Rechte der Völker
Das Tribunal führt in seinem Urteil eine lange Liste von belegten Menschenrechtsverletzungen an. Dabei werden die Verletzungen unterteilt in die Verletzung der zivilen und politischen Rechte (Recht auf Leben, Freiheit und Bewegungsfreiheit, Rechte der Frauen), der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (Gewerkschaftsrechte, Recht auf Gesundheit, Ernährung und ein würdiges Leben; Recht auf eine gesunde Umwelt; kollektive Rechte der indigenen Völker; Recht auf kollektives Eigentum und die natürlichen Ressourcen; Recht auf Selbstverwaltung und kulturelle Autonomie, Mitbestimmung und eigene Entwicklung, sowie das Existenzrecht der Völker).
Im Urteil wird deutlich festgehalten, dass es unmöglich ist, die Fülle aller an den Anhörungen aufgezeigten Verletzungen und Übergriffe auch nur annähernd aufzuführen. All diese Anklagen haben aber gezeigt, dass „man von einer generalisierten Verletzung des Grossteils der fundamentalen Menschenrechte von breiten Kreisen der Gesellschaft sprechen kann“.
In der Folge werden im Urteil verschiedene Modalitäten der Gewalt beschrieben und auf einige besonders emblematische Fälle hingewiesen.
Besonderes Gewicht wird im Urteil auf die massive und systematische Verletzung der kollektiven Rechte der indigenen Völker gelegt. Die Folge davon ist, dass 28 indigene Völker vom Aussterben bedroht sind.
Der Katalog der Menschenrechtsverletzungen reicht von Bombardements, der Verlegung von Minen, Militäroperationen in indigenen Gebieten, die Zwangsrekrutierung, den Einsatz von Zivilpersonen als menschliche Schutzschilder, Massaker, selektiven Morden, aussergerichtlichen Hinrichtungen, Folter, Vergewaltigung, Verschwindenlassen, willkürlichen Verhaftungen, ungerechtfertigten Anklagen, Pestizidbesprühungen im Rahmen der Drogenbekämpfung, Einkesselung und Zufuhrblockaden für Lebensmittel, Medikamente und Treibstoffe; illegale Landnahme und Ausbeutung von Bodenschätzen; illegaler Holzschlag und Zerstörung der Biodiversität; Zerstörung oder illegale Inbesitznahme heiliger Orte; Bestechung; Umsetzung von Megaprojekten ohne vorherige Konsultation oder gegen den ausgesprochenen Willen der indigenen Bevölkerung; gewaltsame Vertreibung; Erstellung eines illegalen Archivs mit DNA-Proben der indigenen Völker Kolumbiens. All diese Menschenrechtsverletzungen haben die Kontrolle über das Territorium, die Ausbeutung der Ressourcen und/oder die Erstellung von Megaprojekten im Infrastruktur-, Energie- oder Tourismusbereich zum Ziel.
„Warum töten sie uns? Weil wir auf Erdöl- und Erdgasvorkommen, auf Kohle, Nickel, Gold, Uran und anderen Bodenschätzen geboren wurden, weil in unseren Gebieten hohe Biodiversität und wichtige Wasservorräte sind, darum töten sie uns!“ meinte ein Redner in Atanquez. Die Folgen dieser „neuen Invasion“ brachte ein indigener Sprecher treffend auf den Punkt: „Wir sind Wasser, wir sind Erde und wir sind Luft. Ohne Territorium sind wir nichts. Ohne Territorium gibt es für uns kein Leben.“
Systematische Straflosigkeit
In seinem Urteil erinnert das Völkertribunal an die im Jahr 1991 in Bogotá stattgefundene Schlusssession über die „Straflosigkeit der Verbrechen an der Menschlichkeit in Lateinamerika“. U.a. hiess es darin: „Die Angst, Verbrechen und die Verantwortlichen einzuklagen, führt zu einem Schweigen der Opfer. So führt die Zerstörung des sozialen Netzes zu kultureller Auflösung.“ Weiter heisst es: „Die institutionalisierte Straflosigkeit kann die von der Zivilgesellschaft erreichten politischen Rechte und Freiräume in Gefahr bringen. (…) Es werden dadurch Bedingungen zur Förderung und Akzeptanz von falschen Alternativen populistischen und caudillistischen Charakters und einem neuen Autoritarismus geschaffen.“
Diese fast schon visionäre Sicht des Tribunals von 1991 wird im Urteil aufgenommen und bekräftigt: „Zu all dem kommt der fehlende politische Wille des Staates, welcher durch Aktion oder bewusster Unterlassung die Verbrechen an der Menschlichkeit zulässt und deren wichtigster Schirmherr ist.“
Abschliessend heisst es im aktuellen Urteil des Völkertribunals: „Die in dieser Session präsentierten Daten und Ereignisse zeigen eine Fortsetzung dieser damaligen Diagnose. Mehr noch, die heutige Evaluation bestätigt die institutionelle Übernahme von Praktiken, welche Grundrechte der Bevölkerung verletzen, wodurch die Straflosigkeit noch verstärkt wird. Kolumbien scheint in diesem Sinne ein eigentliches institutionelles politisches Laboratorium zu sein, wobei die Interessen der nationalen und internationalen Wirtschaftsakteure durch die Nichterfüllung der verfassungsmässigen Pflichten des Staates zum Schutz der Würde und des Lebens eines grossen Teils der Bevölkerung verteidigt werden. Diesem Grossteil der Bevölkerung wird – statt ihn zu schützen – die Doktrin der nationalen Sicherheit in ihrer kolumbianischen Version appliziert, als ob es sich um einen Feind handelt.“
Die Anklage schliesst mit einem Schrei nach Gerechtigkeit: „Niemals mehr soll ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit straffrei bleiben!“
Das Urteil des Ständigen Völkertribunals
Das Völkertribunal verurteilt
a) die kolumbianische Regierung
Ø Wegen des Erlasses von Gesetzen, welche das Recht auf Arbeit – das durch die Verfassung von 1991 geschützt ist – und verschiedene in internationalen Abkommen im Rahmen der ILO verankerte Rechte verletzt (No. 87 und 98).
Ø Wegen der Errichtung eines rechtlichen und institutionellen Rahmens, welcher die generalisierte Verletzung der zivilen und politischen Rechte und der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte ermöglicht. Alle diese Rechte sind durch internationale Abkommen anerkannt, u.a. das Internationale Menschenrechtsabkommen von 1966, welche von Kolumbien ratifiziert wurden.
Ø Wegen der Verletzung ihrer Pflicht zum Schutz der Umwelt, wie es in der Verfassung von 1991 festgehalten ist.
Ø Wegen der Verletzung der kollektiven Rechte auf Land, natürliche Ressourcen, eigene Regierungsformen, Mitbestimmung und eine eigenständige Entwicklung der ursprünglichen Völker.
Ø Wegen der direkten und indirekten Beteiligung, durch Aktion oder Unterlassung, von Praktiken des Genozids: Massaker an Mitgliedern von Organisationen oder Gemeinschaften; schwere Verletzungen der physischen oder mentalen Integrität von Mitgliedern von Organisationen oder Gemeinschaften und die absichtliche Unterwerfung von Gruppen unter Lebensbedingungen, welche zur totalen oder teilweisen physischen Vernichtung führen. Diese Praktiken zeigen sich insbesondere im Prozess der Ausrottung von 28 indigenen Völkern, im Prozess der Zerschlagung der kolumbianischen Gewerkschaftsbewegung und in der Auslöschung der politischen Partei Union Patriotica.
Ø Wegen ihrer direkten oder indirekten Mitbeteiligung, durch Aktion oder Unterlassung, bei der Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie Morde, Vernichtung, Deportation oder gewaltsame Vertreibung der Bevölkerung; Inhaftierung oder andere schwere Freiheitsberaubung in Verletzung der internationalen Grundrechte; Folter; Vergewaltigung; Verfolgung von Gruppen und Kollektiven mit einer eigenen Identität aufgrund politischer und ethnischer Gründe, in Verbindung mit anderen erwähnten Verbrechen und dem Verschwindenlassen von Personen.
Ø (…) Wegen der Nichteinhaltung ihrer Verpflichtung zur Verfolgung von Genozid, Kriegsverbrechen und insbesondere von der Verletzung auf den Zugang zu Justiz und den international den Opfern zuerkannten Rechten.
Ø (…) Die Angestellten von staatlichen Institutionen und die Angehörigen paramilitärischer Gruppen – egal ihrer Stellung innerhalb dieser Institutionen – sind auch individuell rechtlich verantwortlich als Autoren oder Komplizen all jener Vergehen von Genozid, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, an denen sie mitbeteiligt waren.
b) Im Rahmen ihrer Verantwortlichkeiten die Hauptsitze und die Tochtergesellschaften in Kolumbien der folgenden Unternehmen:
Coca Cola, Nestlé, Chiquita Brands, Drummond, Cemex, Holcim, Muriel Mining Corporation, Glencore-Xstrata, Anglo American, BHP Billington, Anglo Gold Ashanti, Kedhada, Smurfit Kappa – Carton de Colombia, Pizano S.A. und die Tochtergesellschaft Maderas del Darién, Urapalma S.A., Monsanto, Dyncorp, Multifruit S.A. Tochtergesellschaft von Del Monte, Occidental Petroleum Corporation (Oxy), British Petroleum, Repsol YPF, Unión Fenosa, Endesa, Aguas de Barcelona, Telefónica, Canal Isabel II, Canal de Suez, Ecopetrol, Petrominerales, Gran Tierra Energy, Brisa S.A., Empresas Públicas de Medellin, B2 Gold – cobre y oro de Colombia S.A..
Ø Die untersuchten multinationalen Unternehmen haben in verschiedenem Grad bei Menschenrechtsverletzungen mitgewirkt. In einigen Fällen durch direkte und aktive Mitbeteiligung, in anderen Fällen als Anstifter oder Komplizen; in allen Fällen haben sie zumindest von der Existenz und den Charakteristiken des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien und den in diesem Rahmen verübten Menschenrechtsverletzungen wirtschaftlich profitiert. (…)
c) Die Staaten, in denen sich die Hauptsitze der untersuchten multinationalen Unternehmen befinden
Wegen ihrer Erlaubnis oder gar Unterstützung, dass diese multinationalen Unternehmen bei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten in anderen Ländern – so z.B. in Kolumbien – die internationalen Menschenrechtsstandards, welche sie in ihren Stammländern einhalten müssten, nicht erfüllen.
Die Regierung der USA im speziellen wegen ihrer entscheidenden Beteiligung an den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Plänen, deren Schaffung und Aufrechterhaltung, wie auch ihrer Mitverantwortung für die Straflosigkeit der angeklagten Situation.
Schlussendlich möchte das Tribunal darauf hinweisen, dass der Genozid, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Kriegsverbrechen von der internationalen Gemeinschaft als die schwersten Vergehen betrachtet werden und die Kompetenz zu deren Aburteilung deshalb dem Internationalen Strafgerichtshof übertragen wurde. Es handelt sich um Verbrechen, die nicht verjähren und die Verantwortung immer übernommen werden muss, unabhängig von dem offiziell ausgeübten Amt. Zudem ist es angebracht darauf hinzuweisen, dass nicht nur die Opfer die angeklagten Verbrechen (sofern sie nach dem 1. Juli 2002 verübt wurden) an die Untersuchungsbehörden des Internationalen Strafgerichtshofes leiten können, sondern auch jeder der über 100 Mitgliedstaaten kann den Untersuchungsinstanzen des Internationalen Strafgerichtshofes Verbrechen unterbreiten, die seiner Meinung nach in dessen Kompetenz fallen.
Empfehlungen des Völkertribunals
Einleitend erinnert das Tribunal daran, dass es sich bewusst ist, dass es sich um ein moralisch-ethisches Urteil handelt, das nicht sofortige und direkte Auswirkungen hat.
„Das Tribunal ruft alle auf, welche eine gerechtere Welt erhoffen und für diese kämpfen und die Verfassungen und Menschenrechtsabkommen ernst nehmen, den Ausdruck des Leidens und den Willen diese unerträgliche Situation der Völker zu ändern, sich zu eigen zu machen.“
„Die Verurteilungen sind unerlässlich. Damit werden der Welt die Verantwortlichen für Morde, Massaker, Vertreibungen, Entführungen, massive und systematische Menschenrechtsverletzungen aufgezeigt. Damit wird aber auch unterstrichen, dass die internationale Gemeinschaft die Fähigkeit hätte – sofern sie möchte – der Straflosigkeit der Mächtigen ein Ende zu setzen.“
a) An die internationalen Institutionen
Ø Vom UN-Menschenrechtsrat wird die Ernennung eines Sonderberichterstatters gefordert, damit „verbindliche Normen zur Verantwortlichkeit der multinationalen Unternehmen im Menschenrechtsbereich“ geschaffen werden.
Ø Weltbank, Welthandelsorganisation WTO, IWF und die Interamerikanische Entwicklungsbank werden zur Änderung ihrer neoliberalen Politik und zur Anerkennung der durch diese Politik verursachten Schäden aufgerufen.
Ø Die Europäische Union EU soll mit effizienter und genauer Kontrolle ihre Wirtschaftshilfe an die Regierungen Lateinamerikas an die Bedingung knüpfen, dass die Menschenrechte vollständig eingehalten werden und die Regierungen ihrer Verpflichtung nachkommen, schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen.
Ø Die UNO soll eine absolut unabhängige und unparteiliche Wahrheitskommission ernennen, um die Wahrheit über diese Jahrzehnte schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen ans Licht zu bringen, ohne dass damit auf die entsprechenden Strafprozesse verzichtet wird.
b) An die kolumbianische Regierung
Die kolumbianische Regierung wird u.a. aufgefordert:
Ø Das bilaterale Abkommen mit den USA über die Nichtauslieferung von US-Bürgern an den Internationalen Strafgerichtshof rückgängig zu machen, da es gegen das Statut von Rom verstösst.
Ø Den Vorbehalt gegen die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes für die Aburteilung von Kriegsverbrechen zurück zu ziehen.
Ø Die Konzessionsvergaben in indigenen Territorien, welche ohne die Zustimmung der indigenen Völker zustande kamen, zu widerrufen.
Ø Ihrer Verantwortung zur Strafverfolgung und Aburteilung von Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen nach zu kommen und die Rechte der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung umfassend zu gewährleisten.
Ø Humanitäre Abkommen und Friedensverhandlungen zu fördern.
c) An alle Regierungen
Die Regierungen werden u.a. aufgefordert:
Ø Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen der Garantierung der Menschenrechte, der menschlichen Entwicklung, Demokratie und Umweltschutz unterzuordnen.
Ø Von den multilateralen Institutionen und den privaten multinationalen Unternehmen die Beendigung ihrer Doppelmoral zu verlangen, wie auch die wirkliche Umsetzung einer Politik, welche prioritär die Menschenrechte respektiert. Die Umsetzung dieser Politik soll obligatorisch und öffentlich von unabhängigen zivilgesellschaftlichen Institutionen überprüft werden.
Ø Die Staaten, in denen die multinationalen Unternehmen ihren Hauptsitz haben, sollen Normen erlassen, wonach diese Unternehmen verbindlich zur Einhaltung der Menschenrechtsnormen – unabhängig vom Land, in dem sie wirtschaftlich tätig sind – verpflichtet werden.
Ø Das Recht anerkennen, direkt vor Gerichten die Verantwortlichkeit und evtl. Entschädigungszahlungen von multinationalen Unternehmen einfordern zu können.
d) An die Guerillaorganisationen
Die Guerillaorganisationen werden aufgefordert, immer und unter allen Umständen die Humanitäre Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung anzuerkennen.
Sofort und bedingungslos alle entführten Zivilpersonen freizulassen.
Humanitäre Abkommen und Friedensverhandlungen zu fördern.
Weitere Empfehlungen werden an den Internationalen Strafgerichtshof, die internationale Gemeinschaft, die Aktionäre von multinationalen Unternehmen und die kolumbianische Justiz gerichtet.
Abschlussbemerkung
„Das Völkertribunal soll das Verbrechen des Schweigens verhindern.“
Bertrand Russel
Meine Bewunderung, Hochachtung und mein Respekt gelten all den Zeuginnen und Zeugen, die mit unvorstellbarem Mut öffentlich die an ihnen und ihren Gemeinschaften verübten Verbrechen angeklagt haben, nicht selten unter Gefährdung ihres eigenen Lebens. Tatsächlich finden ihre erschütternden Aussagen keinen Platz in den Medien, kein Gehör vor Gerichten und höchstens Spott, Verleumdung oder gar Bedrohung bei den Mächtigen. Nicht nur der Mut all dieser Menschen verlangt unseren Respekt, sondern auch ihr gemeinschaftlicher Kampf für die Einhaltung der Grundrechte und der Menschenrechte und für eine gerechtere Welt für alle.
Das Tribunal war geprägt von einer gemeinsamen Anstrengung und Hoffnung auf eine lebbare Welt für alle, in der alle ihren Platz haben.
In der Schlussfolgerung des Tribunals wird denn auch festgehalten:
„Das Tribunal ist tief betroffen von der Feststellung, dass trotz der äusserst tragischen Situation, die seit mehreren Jahrzehnten anhält, ein machtvoller Widerstand gegen alle Ungerechtigkeit und ein fester Wille zur Weiterführung der Arbeit mit dem Ziel der Überwindung einer Kriegskultur, zur Förderung der Umwandlung der Gesellschaft und zur Verwirklichung eines tatsächlichen sozialen Rechtsstaates besteht.
Das Tribunal verpflichtet sich, der Welt diese Stimme zu übermitteln wie auch das Gefühl des Optimismus, das diesen Kampf begleitet und welches nur zu einer immensen Hoffnung führen kann.“