Die neue Regierung von Gustavo Petro hat in den ersten knapp zwei Monaten schon einige Pflöcke eingeschlagen. Auf dem Weg zu einem umfassenden Frieden – paz total nennt es Petro – kam es zu Sondierungsgesprächen mit dem ELN auf Kuba, zu ersten Kontaktaufnahmen mit FARC-Dissidenzen und kriminellen Banden und zu Vorschlägen für eine neue Drogenpolitik. Diesem Thema war auch ein Großteil seiner ersten Rede vor der UNO Vollversammlung gewidmet. Ohne eine Abkehr vom Drogenkrieg und ohne soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit könne es keinen vollständigen Frieden geben. Zudem müsse der Amazonas endlich geschützt werden und die Abhängigkeit von Öl und Kohle überwunden werden, um der Klimakatastrophe zu entgehen. Außenpolitisch hat Petro Botschafter mit Venezuela ausgetauscht und die Grenzen geöffnet. Auch die versprochene Agrarreform nimmt Fahrt auf und eine Steuerreform für mehr Gerechtigkeit ist im Kongress aufgegleist. Doch es gibt auch dunkle Wolken: die Erwartungen an die Regierung Petro, oder nach sozialer Position die Angst davor, sind enorm. Die Ungeduld macht sich z.B. in Landbesetzungen Luft, die die Regierung aus staatspolitischer Raison ablehnen muss. Großgrundbesitzer drohen mit bewaffnetem Widerstand gegen Besetzungen und gegen die Agrarreform, und am 26. August kam es zur ersten Protest Mobilisierung der Rechten. Auch die Gewalt lässt allein wegen einer neuen Regierung nicht automatisch nach: bisher gab es unter der Regierung Petro mindestens neun Massaker und 8 Morde an sozialen Führungspersonen. Es bleibt zu hoffen, dass die teils junge und regierungs unerfahrene Regierungsmannschaft klare Ziele und Politiken definiert, sich dem Land gut erklären kann und über Dialog und Umsicht die notwendigen Reformen für ein wirklich friedliches Land aufgleisen kann.
I. Artikel
Petro will die Campesinos als Rechtssubjekte anerkennen und endlich die Agrarreform umsetzen. Die Kampagne des Pacto Histórico war die einzige, die die Anerkennung der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen als soziale Gruppe und als Rechtssubjekte sowie die Umsetzung einer Agrarreform versprach. Nun macht sich die Regierung an die Umsetzung. Kernstücke der Agrarreform sind das Mehrzweck-Kataster und die Formalisierung des Grundbesitzes. Mit dem Mehrzweck-Kataster soll das Land höher besteuert werden und so mehr produzieren. Unproduktives Land will die Regierung Petro mit dem Gewinn der Bodensteuer aufkaufen und an Landlose verteilen. Ebenso soll der informelle Landbesitz durch Titel legalisiert werden. Mechanisierte Großbetriebe und Kleinbauern sollen nebeneinander bestehen und sich ergänzen. Ebenso steht die Ernährungssouveränität und die Bekämpfung des Klimawandels auf dem Programm. Obwohl es keine sehr radikale Reform mit Enteignungen ist, drohen die Großgrundbesitzer mit massivem, auch bewaffnetem Widerstand.
(Von Stephan Suhner)
Die Regierung Petro strebt eine grundsätzliche Neuausrichtung der Drogenpolitik an
Die Regierung von Gustavo Petro will die Drogenpolitik grundsätzlich ändern, weg vom Drogenkrieg hin zu mehr Prävention und einer Aufhebung des Prohibition Schemas. Sein Experte für Drogenfragen ist der Meinung, dass der Moment sehr günstig sei, um die internationale Debatte darüber zu verstärken. Bei der Politikformulierung werden die direkt betroffenen Gemeinschaften einbezogen und die Empfehlungen der Wahrheitskommission zur Drogenpolitik respektive zum Drogenkrieg innerhalb des kolumbianischen Konfliktes geben weiteren Rückhalt für einen fundamentalen Politikwechsel.
(Von Stephan Suhner)
Wie erreicht Kolumbien den totalen Frieden?
Eines der grossen Ziele der Regierung von Gustavo Petro ist es, den totalen Frieden zu erreichen. Die „paz total“ ist in diesem Konzept viel mehr als das Schweigen aller Waffen oder Sicherheit für alle Bewohner des Landes. Es bedeutet auch Sicherheit vor Hunger und Armut oder Bewältigung der Umwelt- und Klimakrise. Das war auch eine der Kernaussagen von Petro an der UNO Vollversammlung: es gibt keinen totalen Frieden ohne soziale, wirtschaftliche und Umweltgerechtigkeit. Im Endeffekt strebt Petro als Vision einen totalen Frieden an, der auch den Drogenkrieg beendet und die Klimakrise überwindet, um letztlich die Spezies Mensch zu retten. Deshalb auch sein Appell, die Abhängigkeit von Erdöl und Kohle zu reduzieren und den Amazonas zu retten. Der Aufbau eines Entwicklungsplanes in 50 partizipativen Dialogen in den (gewalt geprägten) Regionen ist ein wesentlicher Baustein dieses Planes.
(Von Stephan Suhner)
https://www.askonline.ch/allgemein/wie-erreicht-kolumbien-den-totalen-frieden
II. Apropos
Studie über Abholzung und Fleischproduktion
Die NGO Dejusticia hat eine Studie veröffentlicht über den Zusammenhang zwischen der Fleischproduktion und der Abholzung des kolumbianischen Teils des Amazonas. Obwohl der kolumbianische Staat eigentlich verschiedene Instrumente hat, um die Abholzung zu kontrollieren, werden die Ziele weit verfehlt. Zwischen 2015 und 2020 stieg die Abholzung im Amazonas von 57‘000 auf 109‘000 Hektaren. Die Viehzucht ist für 51% der Abholzung verantwortlich.
Die Landwirtschaftsbehörden haben ein System der Rückverfolgbarkeit des Viehs vom Bauernhof der Aufzucht bis zum Ladentisch, und die Umweltbehörden machen ein Monitoring über die Abholzung, aber diese Daten werden nicht zusammengeführt. Zudem ist es leicht, „Vieh Wäsche“ zu betreiben und Rinder aus verbotenen Zonen wie Naturparks mit solchen aus erlaubten Zonen zu mischen. Zwar würde es ein System individueller Chips für jedes Rind geben, aber das System ist teuer und schwierig landesweit zu implementieren. Die schwache staatliche Präsenz, Misstrauen gegenüber dem Staat und Präsenz bewaffneter Akteure erschweren die Kontrolle der Abholzung zusätzlich. Vor einigen Jahren haben die Regierung, einige Fleischverarbeitungsbetriebe und Supermärkte und der Viehzuchtverband sogenannte Null Abholzungs-Abkommen ausgehandelt, die aber nur 15% des Fleisch-Absatzes umfassen. Da die Konsumenten wenig Interesse an der Abholzung von freiem Fleisch haben , ist der finanzielle Anreiz für Fleischproduzenten gering.
Presentamos un documento sobre carne y deforestación en la Amazonía – Dejusticia
Umstrittene Steuerreform sorgt für erste Proteste gegen Regierung Petro
Das Projekt der Steuerreform für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit sorgt für Nervosität, Kritik und gar Proteste. Die Regierung Petro will damit mehr Steuern einnehmen, um die ambitionierte Reformagenda umsetzen zu können. Zudem hat Petro einen finanziell schlecht dastehenden Staat geerbt. Die Armut beträgt 39% der Bevölkerung, das Fiskaldefizit 5,6% des BIP. Die Steuerreform erhöht die Progressivität und zielt u.a. auf das reichste Prozent der Bevölkerung ab. Das Gesetzesprojekt beschreibt zuerst die historische soziale Schuld Kolumbiens, legt die Finanzstabilität als Grundlage des staatlichen Funktionierens dar, vergleicht das kolumbianische Steuersystem und die unterdurchschnittlichen Steuererträge mit denen anderer lateinamerikanischer Länder und macht Schätzungen zu den wirtschaftlichen und sozialen Resultaten der Reform. U.a. wird erwartet, dass die extreme Armut dadurch um 4% und die Ungleichheit 9 Mal stärker als bisher sinkt. Längerfristig soll der Steuerertrag auf 3,4% des Bruttoinlandsproduktes steigen. Natürliche Personen mit mehr als 10 Millionen Pesos Monatseinkommen (2% der Bevölkerung) werden mehr Steuern bezahlen müssen und es werden Steuererleichterungen reduziert. Für Vermögen über einer Milliarde Pesos wird eine Steuer von 0,5%, über 5 Milliarden von 1% vorgeschlagen. Die Mehrwertsteuer für den Warenkorb des Grundbedarfs soll wegfallen. Durch eine Reform der Zoll- und Steuerbehörde DIAN soll die Steuerhinterziehung massiv reduziert werden. Ebenso schlägt die Regierung Petro eine „Gesundheitssteuer“ auf stark zuckerhaltige Getränke vor. Es ist nicht vorgesehen, die Steuern für Unternehmen zu erhöhen, aber Steuererleichterungen und Schlupflöcher zu reduzieren. Der Industrieverband ANDI ist darüber sehr besorgt und befürchtet weniger Investitionen. Der Ökonom Oliver Pardo schätzt die Steuerreform von Petro als zaghaft ein, v.a. sei es schade, dass die Subventionen auf Benzin nicht reduziert worden seien, das 50 % zu billig sei. Der Versuch von Ex-Präsident Duque, eine Steuerreform durchzuziehen, führte im Frühjahr 2021 zu massiven Volksprotesten. Ob die Reform von Petro ein ähnliches Schicksal erfährt, ist noch nicht klar. Am 26. September 2022 riefen rechte Sektoren jedoch zu Strassenprotesten gegen verschiedene Reformen auf, u.a. gegen die Steuerreform und gegen eine neue Steuer auf Einwegplastik. Die Organisatoren der „Grossen Mobilisierung für Kolumbien“ operieren mit Falschinformationen wonach es zu massiven Preissteigerungen kommen werden und die 48 Millionen reichsten Kolumbianer (das heisst alle) mehr Steuern bezahlen müssten, ohne dass klar sei, was die Regierung mit dem Geld im Sinn habe.
https://www.tributi.com/blog/todo-sobre-la-reforma-tributaria-de-gustavo-petrohttps://www.dw.com/es/aprobar%C3%A1-colombia-la-reforma-tributaria-de-petro/a-62998191
https://cnnespanol.cnn.com/2022/09/26/oposicion-marcha-gustavo-petro-reforma-tributaria-trax/
Erste Erfolge der betroffenen Bevölkerung für Transparenz und Mitgestaltung bei Prodecos Minenschliessung:
Den Gemeinschaften und Gewerkschaften des Kohlereviers im Cesar ist es zuerst gelungen, die Vergabe der Bergbautitel, die Prodeco an den Staat zurückgibt, vorerst zu stoppen und der neuen Regierung Petro diese Entscheidung zu überlassen. In einer Grundrechtsklage fordern sie Offenlegung des Schliessungs Planes und Mitsprache. Ein Gericht in Valledupar gab ihnen Recht und ordnete die Einberufung eines runden Tisches an. Glencore Prodeco verlangt jedoch die Nichtigkeit dieses Urteils. Die Ungewissheit hält an.
https://www.askonline.ch/allgemein/erste-erfolge-der-betroffenen-bevoelkerung-fuer-transparenz-und-mitgestaltung-bei-prodecos-minenschliessung
Erfolgreiche Proteste der ethnischen Gemeinschaften im Einflussbereich von Cerrejón
Die umgesiedelten und historisch vom Kohletagebau des Unternehmens Carbones del Cerrejón betroffenen Wayuú- und Afro-Gemeinden haben am 1. September 2022 beschlossen, den südlichen Teil der Mine im Departement La Guajira zu blockieren, da Cerrejón verschiedene Abkommen und Auflagen nicht erfüllt hatte. Eine erste Verhandlungsrunde am 7. September scheiterte, weil Cerrejón erst verhandeln wollte, wenn die Blockaden aufgehoben werden. Stattdessen drohten Cerrejón und Glencore mit polizeilicher Räumung der Proteste. Die grosse Abwesende war Glencore, die sich entgegen allen den Aufforderungen dem Dialog verweigerte. Trotzdem kam es am 9. September 2022 glücklicherweise zu einer Einigung und der friedliche Protest wurde beendet.
https://www.askonline.ch/allgemein/erfolgreiche-proteste-der-ethnischen-gemeinschaften-im-einflussbereich-von-cerrejon
III. Tipps und Hinweise
Vortragsabend mit VertreterInnen der Friedensgemeinde San José de Apartadó
Donnerstag 6. Oktober 2022, 18.30 Uhr
Politforum Bern, Marktgasse 67, 3011 Bern
Diskussion mit Sayda Jadis Arteagua Guerra und José Roviro Lopez Rivera
Spanisch mit deutscher Übersetzung, anschliessend Apero
https://www.facebook.com/photo?fbid=466701782151364&set=a.464972188990990
Save the Date: Filmabend Der rote Dschungel in der Cinematte am 24. Oktober 2022
https://www.cinematte.ch/component/ohanah/ask-praesentiert-jungle-rouge?Itemid
SONNTAG, 20. NOVEMBER 2022 VON 10:00 BIS 17:30
Soli-Brunch und Jassturnier
Seftigenstrasse 243, 3084 Wabern
https://www.facebook.com/events/1534137393705904/?ref=newsfeed
Rede von Präsident Petro vor der UNO Generalversammlung:
https://www.youtube.com/watch?v=4kTRokMkZaA
IV. Lesenswerte Artikel
Regierung baut landesweit mit lokaler Bevölkerung Entwicklungsplan auf https://amerika21.de/2022/09/260136/kol-verbindliche-dialoge-regierung-petro
Klage Glencores gegen den kolumbianischen Staat: Organizaciones internacionales piden a la Corte Constitucional de Colombia que se mantenga firme en el respeto de los derechos de pueblos y comunidades indígenas ante la presión de multinacionales mineras | TerraJusta (terra-justa.org)
Zur Rede Petros an der UNO Generalversammlung:
Erste Proteste von Rechts gegen Regierung Petro:
Grüner Wasserstoff als Ersatz für russisches Gas: Wird Lateinamerika Europas neuer Energiepartner?
https://www.boell.de/de/2022/08/23/wird-lateinamerika-europas-neuer-energiepartner
Mexiko: Nestlé ist mitverantwortlich für Todesursache Nr. 1 https://www.infosperber.ch/wirtschaft/konzerne/mexiko-nestle-ist-mitverantwortlich-fuer-todesursache-nr-1/
Redaktion: Lisa Alvarado