Kolumbien-aktuell No. 614 | Mai 2021

Proteste, Proteste, Proteste. Der Monat Mai war in Kolumbien von diesem Wort geprägt. Und es scheint kein Ende in Sicht. Die Regierung versucht mit Drohungen und vagen Versprechen die Streikenden zu schwächen, doch die geben nicht nach. Immer neue Formen des friedlichen Widerstands werden ersonnen, gegen die die Staatsgewalt immer absurder erscheint.

Anfang Juni wird eine Beobachtungsmission der interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) nach Kolumbien reisen und sich die Situation vor Ort ansehen. Die Regierung hat es nach erstem Zögern zugelassen. Die UNO und verschiedene Länder, darunter auch die Schweiz, zeigen sich öffentlich besorgt über die Ausmasse der Gewalt. Aussenministerin Claudia Blum und Finanzminister Carrasquilla mussten bereits abtreten, doch das Centro Democrático bleibt hart, Duque ist sogar soweit gegangen, verschiedenen Städten und Departamenten die Militarisierung ihrer Territorien unter Drohung von Sanktionen vorzuschreiben. Doch es scheint alles nichts zu nützen. Die Demonstrierenden werden nicht aufgeben, sie haben schliesslich nichts mehr zu verlieren. Neben diesen alles überschattenden Ereignissen gehen andere Nachrichten fast unter.

I.  Artikel

Nach über einem Monat der Proteste und der brutalen Repression ist kein Ende der Auseinandersetzungen in Sicht

Am 28. April 2021 haben mit dem Nationalstreik breite Proteste der kolumbianischen Bevölkerung begonnen, die nun seit über einem Monat andauern und trotz massivster staatlicher und parastaatlicher Repression nicht abflauen. So gab es am 28. Mai erneut einen massiven, landesweiten Protesttag. Wie schon früher war Cali ein Epizentrum des Widerstands sowie auch deren brutalen Bekämpfung, es gab 12 Tote und 98 Verletzte, 54 davon mit Schusswaffen. Landesweit hat die Polizei seit dem 28. April offenbar 59 Personen getötet, 866 verletzt, 70 davon mit Feuerwaffen, und 2‘152 Personen willkürlich verhaftet. 346 Menschen sind verschwunden. (Von Stephan Suhner)

https://www.askonline.ch/allgemein/brutale-repression-gegen-mehrheitlich-friedliche-massenproteste

La Mala Hora

Der neuste Bericht von Somos Defensores zeigt in einer Anlehnung an das Werk La Mala Hora von Gabriel García Márquez, wie Kolumbien eine ‘schlechte Stunde’ erlebt. Eine schlechte Stunde für die Menschenrechte, eine schlechte Stunde für die Unabhängigkeit der Justiz, eine schlechte Stunde für den Frieden. Der Bericht beinhaltet neben der üblichen Analyse der Menschenrechtssituation in Kolumbien 2020 und dem Nachruf an die Verstorbenen auch einen spannenden Vergleich, der zum 30-jährigen Jubiläum zeigt, was die Verfassung von 1991 mit dem Friedensabkommen von 2016 zu tun hat.

(Von Lisa Alvarado)

https://www.askonline.ch/allgemein/la-mala-hora

Verhandlungen mit dem ELN – ein unmöglicher Friedensprozess?

In der jetzigen Lage in Kolumbien, mit dem weiter andauernden nationalen Streik, der alarmierenden Militarisierung durch die Regierung und steigenden Zahlen von Menschrechtsverletzungen, scheint das Thema von Friedensverhandlungen mit dem ELN nicht gerade das aktuellste Thema. Nichtsdestotrotz ist das Thema im Mai wieder in die Schlagzeilen gelangt. Nicht nur weil dies eine Forderung des nationalen Streikkomitees an die Regierung ist, sondern auch wegen des Rücktritts des Hohen Friedenskommissars der kolumbianischen Regierung am 22.05.2021. (Von Carla Ruta)

https://www.askonline.ch/themen/frieden/verhandlungen-mit-dem-eln-ein-unmoeglicher-friedensprozess

II.   Apropos

Ex-FARC Mitglieder anerkennen Verantwortung im Fall 001 vor der JEP:

Anfang dieses Jahres wurden acht ehemalige Mitglieder des FARC-Sekretariats unter dem Fall 001 der JEP zu Entführungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt. Sie hatten daraufhin 30 Tage Zeit, dazu Stellung zu nehmen. Pünktlich am 30. April haben die ehemaligen FARC-Kommandanten eine 130-seitige Stellungnahme abgegeben, worin sie ihre Verantwortung anerkennen. Jetzt ist es an den Untersuchungsrichtern festzustellen, ob die angeklagten Verbrechen vollständig anerkannt wurden. Wenn dies der Fall ist, werden die Opfer des Falls 001 und die ehemaligen Kommandeure zu einer öffentlichen Anerkennungsanhörung vorgeladen und der Fall wird an das Friedenstribunal weitergeleitet, wo entschieden wird, was genau für Strafen die Täter absitzen müssen. Die Strafen sind restaurativ, das heisst sie werden nicht in einem Gefängnis abgesessen sondern mit Arbeiten zur Reparation der Opfer. Was genau das für Arbeiten sein werden wird laut der JEP gemeinsam mit den Opfern ausgearbeitet.

Verschiedene internationale Organismen, darunter auch die UNO haben die Anerkennung der Verantwortung der FARC als wichtigen Schritt für den Frieden und die Menschenrechte bezeichnet. Auch die Schweiz hat das Communiqué der UNO mitunterzeichnet und sich positiv zu den Aussagen der FARC geäussert.

https://twitter.com/SuizaColombia/status/1398287100940886024

https://colombia.unmissions.org/comunicado-del-representante-especial-del-secretario-general-de-naciones-unidas-en-colombia-y-los

https://www.elespectador.com/colombia2020/justicia/jep/jep-acusa-a-ocho-excomandantes-de-las-farc-por-secuestro/

https://www.elespectador.com/colombia2020/justicia/jep/lo-que-hara-la-jep-con-el-reconocimiento-del-delito-de-secuestro-de-los-exfarc/

https://www.elespectador.com/colombia2020/justicia/jep/reconocimiento-de-exfarc-es-un-avance-importante-en-derechos-de-las-victimas-onu/

https://www.semana.com/nacion/articulo/ante-la-jep-farc-aceptan-su-responsabilidad-por-los-secuestros-cometidos/202159/

https://www.jep.gov.co/Especiales/casos/01.html

Siona wehren sich gegen Allianz zwischen dem PNUD und Ölfirma im Putumayo:

Letzten Monat hatten wir im Newsletter einen Artikel zu den Siona publiziert (https://www.askonline.ch/themen/menschenrechte/die-siona-ein-volk-an-der-grenze). Jetzt leistet die Siona Gemeinde Buenavista im Putumayo Widerstand gegen eine Allianz zwischen dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (PNUD) und einer chilenischen Erdölfirma (GeoPark), die in ihrem Gebiet Lizenzen hat. Seit 2019 gibt es das Programm ‘Nachhaltiger Amazonas für den Frieden’, worin die PNUD zusammen mit der Siona Gemeinde Buenavista und der Kleinbauernorganisation ZRC Perla Amazonica Aktivitäten unterstützt, die einen nachhaltigen Schutz der Indigenen und der Biodiversität zum Ziel haben. Dass das PNUD jetzt mit einer Erdölfirma zusammenarbeitet, welche bereits denunzierte Schäden in ihrem Territorium verursacht und indigene Autoritäten ignoriert hat, sehen die Siona als Vertrauensbruch.

Die Allianz zwischen dem PNUD und Geopark hat eine nachhaltige Entwicklung in den Departementen Casanare, Meta und Mutumayo zum Ziel und beinhaltet Projekte, welche die Armut und Hunger reduzieren und zum Frieden beitragen sollen. Da GeoPark in der Vergangenheit bereits indigene Autoritäten ignoriert und der Extraktivismus grundsätzlich die Umwelt und indigene Territorien schädigt, können die Siona die Zusammenarbeit des PNUD mit GeoPark nicht nachvollziehen. Für sie stellt es einen Bruch mit den Menschenrechten von seiten des PNUD dar und deshalb wollen sie nicht weiter mit dem Programm zusammenarbeiten, solange diese Allianz mit GeoPark besteht. Dazu kommt, dass anscheinend Mitglieder der illegalen bewaffneten Gruppen öffentlich erklärt haben, dass sie direkt mit dem Unternehmen verhandeln, «um den Betrieb sicherzustellen und jeglichen Widerstand gegen seismische Aktivitäten zu vermeiden.»

https://www.contagioradio.com/comunidades-rechazan-alianza-del-pnud-y-geopark-en-putumayo/

Jesús Sántrich tot?

Laut verschiedenen Medienberichten ist Jesús Sántrich, der zunächst im Friedensprozess mitverhandelt hatte, ein Kongressmandat erhalten sollte, es wegen Vorwürfen von Drogenhandel noch nach dem Friedensvertrag nicht ausüben konnte und dann wiederum zurück in den Untergrund ging, nun mutmaßlich in Venezuela getötet worden. Laut eigenen Aussagen der Segunda Marquetalia, der FARC-Dissidenz, der sich Sántrich angeschlossen hatte, wurde er von kolumbianischen Streitkräften auf venezolanischem Territorium (in der Sierra de Perijá nahe der Grenze zu Kolumbien) getötet. Sie sollen ihm als Beweismittel einen Finger abgeschnitten haben und dann in einem gelben Helikopter abgeholt worden sein, der Richtung Kolumbien flog. Doch das steht im Widerspruch zu den verwirrten ersten Aussagen des kolumbianischen Verteidigungsministers Diego Molano, der zuerst nur bekannt gab, dass er nichts davon wisse und Abklärungen laufen. Sántrichs Tod und die Frage nach seinem Mörder wurde somit schnell politisch, denn was hätten kolumbianische Streitkräfte auf der venezolanischen Seite der Grenze zu suchen und was würde es andererseits bedeuten, wenn es illegale Banden (evt. sogar kolumbianische Dissidenzen) gewesen waren, die sich in Venezuela verstecken, wie dann die offizielle Version der kolumbianischen Regierung lautete? Andere Theorien gehen davon aus, dass Sántrich von Auftragsmördern umgebracht wurde, da die USA 10 Mio. Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt hatten und Kolumbien auch nochmal über 600’000$. Auch möglich ist, dass Sántrich von anderen FARC-Dissidenzen wie der von Gentil Duarte umgebracht wurde, die zur Zeit über Drogenschmuggelrouten kämpfen. Bisher gab es auch noch keine Beweisfotos des toten Sántrich.

https://www.contagioradio.com/santrich-fue-gestor-acuerdo-de-paz/

https://elpais.com/internacional/2021-05-19/jesus-santrich-una-muerte-muy-sonada-y-cubierta-de-silencio.html

https://www.semana.com/nacion/articulo/atencion-jesus-santrich-fue-abatido-en-venezuela-en-medio-de-un-enfrentamiento-entre-bandas-ilegales/202112/

https://amerika21.de/2021/05/250772/kolumbien-tot-mord-santrich-farc?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

III.  Tipps und Hinweise

Webinar zu sozialem Protest und Staatsgewalt in Kolumbien

Mo, 7. Juni 2021, 17:00-18:30 Uhr, online

PBI Schweiz organisiert zusammen mit der ask! und Comundo ein Webinar zum aktuellen Thema des sozialen Protests und der Staatsgewalt in Kolumbien. Die Veranstaltung findet auf Spanisch mit Übersetzung auf Französisch statt. Eine Anmeldung ist erforderlich.

https://www.askonline.ch/veranstaltungen/podiumsdiskussion-capaz

Menschenrechtsverteidiger im Cauca in Gefahr

Der Verteidigungsminister Diego Molano Aponte verkündete am 15. Mai 2021, dass Mitglieder der FARC-Dissidenz hinter den Attacken gegen die Polizeistation und das Institut für Rechtsmedizin stecken und nannte vier angebliche Anführer und Verantwortliche – alias «Cheto», alias «Maíz», alias «Caleño» und alias «Andrés». Er setzte eine finanzielle Entschädigung von bis zu 50 Millionen kolumbianische Pesos (ca. 12.200 CHF) für Hinweise an, welche der Aufklärung des Sachverhalts dienen. Diese Aussagen wurden sowohl von den sozialen Organisationen, als auch vom Gouverneur des Cauca, Elías Larrahondo Carabalí abgelehnt, da zumindest die ersten drei genannten Personen als soziale Aktivisten anerkannt sind.

Diese Anschuldigungen widersprechen einem fairen Verfahren und gefährden das Leben und die physische Integrität der genannten Personen. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission lehnt die beschuldigenden und stigmatisierenden Aussagen ab und erinnert den Staat an seine Pflicht, die Respektierung des Rechts auf Verteidigung der Menschenrechte zu fördern.

Auf unserer Webseite sind drei Videos von den beschuldigten Menschenrechtsverteidigern zu finden, in denen sie erklären, was ihre Arbeit ist und weshalb sie das tun.

https://www.askonline.ch/themen/menschenrechte/menschenrechtsverteidiger-im-cauca-in-gefahr

IV.      Lesenswerte Artikel