Kolumbien-aktuell No. 612 | März 2021

Mit den ersten grünen Sprossen an Bäumen und Büschen scheinen auch die Menschenrechtsorganisationen neue Energie geschöpft zu haben. Aus allen Ecken und Enden wird an verschiedenen Online-Veranstaltungen auf die Verantwortung der kolumbianischen Regierung in der Intensivierung des Konflikts gepocht. So beharrte Ana Maria Rodriguez von der Alianza gleich an mehreren Anlässen darauf, dass das Paz […]

Mit den ersten grünen Sprossen an Bäumen und Büschen scheinen auch die Menschenrechtsorganisationen neue Energie geschöpft zu haben. Aus allen Ecken und Enden wird an verschiedenen Online-Veranstaltungen auf die Verantwortung der kolumbianischen Regierung in der Intensivierung des Konflikts gepocht. So beharrte Ana Maria Rodriguez von der Alianza gleich an mehreren Anlässen darauf, dass das Paz con Legalidad-Konstrukt, welches der Friedensberater der Regierung, Emilio Archila so wortgewandt verteidige, nicht mit der Umsetzung des Friedensabkommens gleichzusetzen sei. Auch Diana Sánchez von der CCEEU hob in Gesprächen mit internationalen Beobachtern hervor, dass die Hauptverantwortung für die Verschlimmerung der Lage in Kolumbien bei der Regierung liege, die kein Interesse an der Umsetzung des Friedensabkommens habe. Sogar der UNO Sonderberichterstatter für Menschenrechte, Eamon Gilmore, zeigte sich trotz diplomatischer Ausdrucksweise besorgt über die steigenden Mord- und Massakerzahlen. In Anbetracht des fünfjährigen Jubiläums, welches der Friedensvertrag im November feiern wird, ist dies sicher ein Jahr der Zwischenbilanzen. Dass die kolumbianische Regierungspartei, die sich von Anfang an gegen das Abkommen eingesetzt hat, nicht plötzlich die Seiten wechseln wird, ist wohl klar. Doch das bedeutet auch, dass sie bei den Auswertungen zum Fortschritt des Friedens nicht allzu gut abschneiden wird. Und da wird auch der Zahlenkrieg, den sie momentan führen, nicht viel helfen.

I.  Artikel

Der Überlebenskampf der Awá zwischen Pandemie, bewaffnetem Konflikt und drohender Wideraufnahme der Antidrogen-Sprühflüge

In der ersten Märzhälfte organisierte die Kommission für Frauen und Familie (Consejeria Mujer y Familia) der Indigenen Einheit des Volkes der Awá (UNIPA) mit Unterstützung des Observatoriums der Indigenen Völker Kolumbiens OADPI und der Bewegung für den Frieden MDPL aus Katalonien eine virtuelle Lobbyreise, an der sich die ask! beteiligte. Wir organisierten je einen Austausch mit der Schweizer Botschaft in Bogotá und der Abteilung Frieden und Menschenrechte des Aussendepartements EDA, sowie mit dem Sonderberichterstatter der UNO für Indigene Völker. Bei den Lobbygesprächen nahmen Claudia Pai und Leidy Pai der Kommission für Frauen und Familie teil.

(Von Stephan Suhner)

https://www.askonline.ch/allgemein/der-ueberlebenskampf-der-awa-zwischen-pandemie-bewaffnetem-konflikt-und-drohender-wideraufnahme-der-antidrogen-spruehfluege

Fleischkonsum, Abholzung und (un)nachvollziehbare Zusammenhänge

Über das Thema Fleischkonsum wird in Europa und auch in der Schweiz schon seit einigen Jahren kritisch diskutiert. Soja aus Brasilien als Tierfutter für Schweizer Vieh ist ein Stichwort. Doch auch direktere Zusammenhänge wie die Abholzung von Primärwald um Viehweiden zu schaffen spielen eine wichtige Rolle. Doch obwohl es viele wissenschaftliche Studien gibt, die solche Zusammenhänge aufzeigen, ist es heute immer noch schwierig, ganze Lieferketten nachvollziehbar zu überwachen. Und die Firmen geraten unter zunehmenden Druck.

(Von Lisa Alvarado)

https://www.askonline.ch/themen/wirtschaft-menschenrechte/fleischkonsum-abholzung-und-unnachvollziehbare-zusammenhaenge

II. Apropos

Verteidigungsminister bezeichnet Minderjährige als Kriegsmaschinen:

Diego Molano als Verteidigungsminister hat Minderjährige als Kriegsmaschinen bezeichnet, nachdem bei einem Bombardement in Guaviare mindestens ein minderjähriges Mädchen ums Leben gekommen ist. Insgesamt sind 10 Personen umgebracht worden. Gentil Duarte, der das eigentliche Ziel der militärischen Operation gewesen war, scheint aber nicht darunter zu sein. Allerdings hat die Verbreitung von Listen von angeblich getöteten Kindern auf sozialen Netzwerken für grosse Verwirrung und Sorge unter Eltern gesorgt, die daraufhin nach Villavicencio reisten, trotz fehlender finanzieller Ressourcen, wo anscheinend die Leichen in den Räumen der Gerichtsmedizin (medicina legal) aufbewahrt wurden. Einige Kinder konnten identifiziert werden, auch mithilfe von DNA-Tests, andere Eltern befinden sich weiterhin in Ungewissheit. Zum Teil handelt es sich um Kinder, die schon seit mehreren Jahren als vermisst gelten, und jetzt wieder auf diesen Listen aufgetaucht sind.

Die Aussage von Molano, dass das Bombardement legitim gewesen sei, da die beteiligten Kinder zu Kriegsmaschinen ausgebildet werden, ist sehr bedenklich und ein Hohn gegenüber besorgten Familienangehörigen. Er spricht ihnen somit ihre Opferrolle als unfreiwillig rekrutierte Minderjährige ab und ignoriert damit internationales Völkerrecht, da die Armee davon wusste, das sich Minderjährige in dem Camp befanden. Menschenrechtsorganisationen unterstützen die betroffenen Familien in ihrer Forderung nach Antworten der Regierung über den Verbleib ihrer Kinder und kritisieren die Haltung des Verteidigungsministers.

https://www.colombiainforma.info/ejercito-podria-haber-asesinado-menores-de-edad-en-bombardeo-en-guaviare/

https://razonpublica.com/maquinas-guerra-se-validan-las-muertes-colombia/

https://amerika21.de/2021/03/248812/bombardierung-guaviare-kolumbien?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

https://www.youtube.com/watch?v=HYcFOozrMYI

Neuer Ombudsmann für Urabá:

Anfangs März wurde ein neuer Ombudsmann (Defensor del pueblo) für die Region Urabá ernannt, der lokal für grosse Besorgnis sorgt. Wie die Friedensgemeinde San José de Apartadó in einem Comuniqué mitteilt, ist der neu ernannte José Augusto Rendón García kein unbeschriebenes Blatt. Der Anwalt hat bisher die Familie Jaramillo vertreten, die Ländereien (die Finca Roncona) für sich beansprucht, welche von der Friedensgemeinde seit 23 Jahren bewohnt werden und ihnen im Landrückgabeprozess zugesprochen werden sollen. Rendón García hat in diesem Prozess beispielsweise einen bekannten Paramilitär (alias Samir) als Zeugen berufen, der laut dem Comuniqué früher FARC-Kommandant war, später bei der 17. Brigade des Militärs in Carepa, Antioquia als Spion gegen die FARC gearbeitet hat und jetzt zu paramilitärischen Gruppen gewechselt hat. Während der letzten Anhörung zu dem Fall La Roncona hat sich Rendón García unerwarteterweise als Anwalt aus dem Fall zurückgezogen und das Amt seiner Frau übertragen. Jetzt wurde klar, dass dies geschah, um das Amt des regionalen Ombudsmannes anzunehmen. Die Friedensgemeinde hält deshalb öffentlich in ihrem Comuniqué fest, dass sie in diesem Fall der Ombudsstelle nicht weiter vertrauen können, da Rendón García als neuer Ombudsmann auf keinen Fall die Unparteilichkeit wahrnehmen kann, die sein Amt verlangt. Aus diesem Grund verlangt jetzt die Friedensgemeinde vom Verfassungsgericht, dass es die Aufgaben, die es im Gerichtsfall T-1025 von 2007 auf diese Ombudsstelle übertragen hatte, wieder zurücknimmt. In diesem Gerichtsfall ging es darum, dass in einer Grundrechtsklage (tutela) gefordert wurde, dass das Verteidigungsministerium alle Namen von Personen der Armee und der Polizei bekannt gäbe, welche im Zeitraum von September bis November 2005 auf dem Gebiet der Friedensgemeinde San José war. Es ging dabei um einen Mord, mehrere Drohungen, Verletzungen, Plünderungen und Zusammenarbeit mit Paramilitärs. Obwohl der Grundrechtsklage vom Verfassungsgericht stattgegeben wurde, wurden die Namen bis heute nicht freigegeben. Wenn man bedenkt, dass sich die Situation in der Region betreffend Zusammenarbeit von Armee und Paramilitär nicht wirklich geändert hat, versteht man die Sorge und auch den Frust der Friedensgemeinde, da sich der Kreis gewissermassen wieder schliesst. Das Comuniqué hält zum Schluss fest, dass mehrere Mitglieder der Friedensgemeinde sich gezwungen sehen, ihre Ländereien an Corpourabá (Korporation für nachhaltige Entwicklung Urabá) zu verkaufen, aufgrund von Drohungen und neuen, von Paramilitärs eingeführten Regeln. Das Comuniqué schliesst mit den folgenden Worten: «Die Paramilitärs gehen voran und ebnen mit ihren Drohungen, Landbesetzungen und Aggressionen den Weg, damit später die Unternehmen, das Bürgermeisteramt und CORPOURABÁ ihre Grundstücke einfach übernehmen können. Korrupte Anwälte haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt, wie z.B. Herr RENDÓN GARCÍA, der jetzt ironisch und sarkastisch zum „Verteidiger“ des Volkes von Uraba umfunktioniert wurde.»

https://www.corteconstitucional.gov.co/relatoria/2007/T-1025-07.htm

https://www.justiciaypazcolombia.com/rechazamos-el-nombramiento-de-jose-rendon-como-defensor-regional-del-pueblo-de-uraba/ 

Update zum Fall Uribe:

Am 5. März hat die Staatsanwaltschaft (Fiscalía) unter der Leitung von Gabriel Jaimes beantragt, den Prozess gegen Alvaro Uribe einzustellen. Dieser Prozess* lief seit 2014 und begann zunächst damit, dass Uribe den Senator Ivan Cepeda anklagte, der angeblich Zeugen manipuliert habe, die gegen Uribe aussagten. Dreieinhalb Jahre später befand das Gericht aber, dass Cepeda unschuldig sei, und klagte stattdessen Uribe an, die Zeugen manipuliert zu haben. Es ging dabei um die Gründung von paramilitärischen Gruppen in Antioquia. Nachdem Uribe 2019 verhört wurde, entschied die Strafgerichtskammer am 8. August 2020, dass Uribe in Untersuchungshaft genommen werden solle, da Gefahr bestehe, dass er den Prozess weiter manipuliere. Tage später zog sich Uribe aus dem Amt als Senator zurück, was nach weiteren Diskussionen dazu führte, dass sein Prozess vom Höchsten Gerichtshof zur Staatsanwaltschaft verlegt wurde. Diese hob zuerst den Hausarrest auf, und ging jetzt soweit, die Annullierung des Prozesses zu beantragen. Es ist bekannt, dass der oberste Staatsanwalt Francisco Barbosa ein enger Jugendfreund von Ivan Duque ist, und auch weitere Amtsträger in der Staatsanwaltschaft nahe bei der Regierungspartei Centro Democratico stehen, deren Vorsteher Alvaro Uribe ist.

Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft fiel zwei Tage nachdem Uribe seine Grundrechtsklage zurückzog, in welcher er forderte, dass sein Prozess zurück auf 0 gestellt werde, da ja neu die Staatsanwaltschaft den Prozess führte.

Das letzte Wort in dieser Entscheidung wird dann ein Strafrichter haben, wahrscheinlich von der Strafkammer des Obergerichts von Bogotá (Sala Penal del Tribunal Superior). Entweder wird also der Fall definitiv archiviert, oder es beginnt doch ein Gerichtsprozess, obwohl die Staatsanwaltschaft davon abrät.

https://www.elespectador.com/noticias/judicial/caso-uribe-el-expresidente-retiro-tutela-con-que-buscaba-tumbar-su-imputacion/

https://razonpublica.com/juicio-uribe-le-dara-le-quitara-fuerza-2022/

*Für eine ausführlichere Darstellung des Prozesses siehe auch Artikel vom Newsletter 595 im August 2020: https://www.askonline.ch/themen/frieden/uribe-und-der-hausarrest 

Tribunal de los Pueblos tagt in Kolumbien:

Zum dritten Mal in der Geschichte hat vom 25.-27. März das Tribunal Permanente de los Pueblos (TPP) in Kolumbien getagt. Das TPP wurde 1979 in Rom vom Senator Lelio Basso als unkonventionelles Ethik- und Meinungstribunal gegründet und hat zum Ziel, weltweit die Anerkennung der Wahrheit und Verantwortungsbewusstsein von Staaten in Bezug auf ernste Menschenrechtsverletzungen zu fördern. Es geht also um die Aufdeckung von und Reflektion über strukturelle Gewalt durch den Staat. Das TPP in Kolumbien wurde von über 150 zivilgesellschaftlichen Organisationen einberufen, die auf die kritische Situation der Menschenrechte im Land verweisen. Über 50 Berichte wurden in Bogotá, Medellín und Bucaramanga vor internationalen Richtern präsentiert, worin es um Opfer von Genoziden in verschiedenen Dimensionen (politisch, sozial, kulturell, gewerkschaftlich, etc.), um Straflosigkeit und um die Vergehen gegen den Friedensvertrag ging. In den meisten Fällen gibt es auch einen Bezug zum bewaffneten Konflikt. Eine Gruppe von Berichten bezieht sich beispielsweise auf die Verfolgung und Vernichtung von Bauernorganisationen und anderen ruralen Initiativen. Weitere Berichte beziehen sich auf linke politische Gruppen, studentische Organisationen, indigene und afrokolumbianische Gruppen oder die nationale Gefängnisbewegung. Das TPP lädt auch den kolumbianischen Staat dazu ein, einen Verteidiger zu benennen, der Antworten gibt zu den Anklagen, welche die Opfer der Staatsgewalt präsentieren. Laut einem Repräsentanten des TPP ist es kein Grund zur Freude, dass das TPP in Kolumbien tagt, denn es bedeute, dass Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien definitiv systematisch seien und nicht nur seit Jahrzehnten andauern, sondern trotz bestehender Gerichtsurteile vom Staat und der Machtelite weitergeführt würden. Wie die Berichte von den Richtern beurteilt wurden, was die kolumbianische Regierung auf das TPP geantwortet hat und wie das Tribunal allgemein in den Medien aufgenommen wurde, war zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch nicht bekannt.

https://www.colombiainforma.info/comienzan-hoy-las-sesiones-del-tribunal-permanente-de-los-pueblos-en-colombia/

https://www.facebook.com/TPPColombia2021

 

Lesenswerte Artikel

–       Die Bedrohung der Awá und ihrer Lebensweise durch Palmöl und Koka: https://verdadabierta.com/un-indigena-sin-territorio-no-es-indigena/

–       Polizeigewalt im Fokus: https://amerika21.de/2021/03/248662/gewaltpolizei-kolumbien-89-tote-2020?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

–       Kritik der UNO an kolumbianischen Glyphosatflügen und deren Antwort darauf: https://amerika21.de/2021/03/248719/uno-kritisiert-kollumbien-bez-glyphosat?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

–       Kolumbianische Flüchtlinge bekommen in Deutschland nicht den Schutz, den sie verdient hätten: https://amerika21.de/analyse/248851/deutschland-illusion-frieden-kolumbien?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

–       Kämpfe im Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Venezuela: https://amerika21.de/2021/03/249067/gefechte-kolumbien-und-venezuela?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

–       Abholzung spricht für eine umfassende und integrale Landreform: https://censat.org/es/analisis/tomarse-en-serio-la-deforestacion-requiere-una-reforma-rural-urgente-9737

–       Was bedeutet die Kommodifizierung von Wasser? https://censat.org/es/analisis/las-ansias-de-la-financiarizacion-del-agua-9740

–       Über die mehrdimensionale Gewalt im Umfeld der Kokapflanze: https://verdadabierta.com/el-alto-costo-de-apostarle-a-la-sustitucion-de-cultivos-ilicitos/

 

Redaktion: Lisa Alvarado