AMNESTY INTERNATIONAL
26. September 2016 | Pressemitteilung
Kolumbien:
HISTORISCHES FRIEDENSABKOMMEN MUSS GERECHTIGKEIT UND DAS ENDE VON MENSCHENRECHTSVERSTÖßEN SICHERSTELLEN
Kolumbiens Regierung und die Guerilla-Gruppe FARC unterzeichnen offiziell Friedensvertrag
Der Erfolg des historischen Friedensvertrages, den Kolumbiens Regierung und die größte Guerilla-Gruppe des Landes, FARC, heute offiziell in Cartagena unterzeichnet haben, hängt stark davon ab, ob es den Behörden in Kolumbien gelingt, die Millionen Opfer des über 50 Jahre alten Konfliktes Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung erfahren zu lassen, sagt Amnesty International.
Das Friedensabkommen muss noch in einer Volksabstimmung von Kolumbiens Bevölkerung angenommen werden. Diese wird am 2. Oktober 2016 abgehalten.
„Heute ist zu Recht ein Festtag in Kolumbien. Die Behörden müssen nun aber ab sofort dafür sorgen, dass diese historische Errungenschaft nicht nur eine leere Hülle bleibt und sicherstellen, dass alle, die für die abscheulichen Völkerrechtsverbrechen verantwortlich sind, die Millionen von Menschen über ein halbes Jahrhundert lang in Kolumbien erlitten haben, auch vor ein Gericht gestellt werden“, sagt Erika Guevara-Rosas, Amerikas-Direktorin bei Amnesty International.
„Die Verbrechen derjenigen, die diese Übergriffe ausgeführt, angeordnet oder die davon – auch in Wirtschaft und Politik – profitiert haben, können und dürfen nicht einfach mit einem Federstrich hinweg gewischt werden“, so Guevara-Rosas weiter.
Das transitional justice-Modell, auf das sich Kolumbiens Regierung und die „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, FARC) bereits im letzten Jahr geeinigt hatten, wird sicherlich ein wenig dazu beitragen, dass einige Opfer des bewaffneten Konfliktes bis zu einem gewissen Grad Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung erfahren.
Dennoch bleiben viele Bestimmungen dieses Modells bisher offenkundig hinter den Normen und Standards zurück, die das Völkerrecht für die Rechte von Opfern von Menschenrechtsverletzungen vorsieht. Die Strafen beispielsweise für diejenigen, die ihre Verantwortung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einräumen, spiegeln nicht die Schwere solcher Vergehen wider. Außerdem könnten die Vorgaben zur Feststellung von Vorgesetztenverantwortlichkeit dazu führen, dass viele Kommandeur_innen sowohl in den Reihen der Guerilla-Gruppen als auch der staatlichen Sicherheitskräfte einer Verurteilung für Menschenrechtsverstöße und -verletzungen entgehen, die ihre Untergebenen begangen haben.
Die gewaltvollsten Jahre hat Kolumbien schon länger hinter sich gelassen. Dennoch reißen Menschenrechtsverstöße und -verletzungen gegen marginalisierte Gemeinden – insbesondere indigene, afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gruppen – und gegen Menschenrechtsverteidiger_innen wie Gemeindesprecher_innen, Gewerkschafter_innen oder Landrechtsaktivist_innen bis heute nicht ab.
„Der Großteil dieser Angriffe steht nicht im Zusammenhang mit Kampfhandlungen und gründet häufig auf Wirtschaftsinteressen. Viele Angriffe gehen zudem auf das Konto paramilitärischer Gruppen, die trotz ihrer vermeintlichen Demobilisierung vor zehn Jahren weiter aktiv in Kolumbien operieren. Die meisten derjenigen Gemeinden, die heute Gefahr laufen, attackiert zu werden, sind genau die, die sich auch aktiv gegen die Ausbeutung ihrer Ländereien und Territorien durch Konzerne des Bergbau-, Infrastruktur- und Agroindustrie-Sektors zur Wehr setzen“, sagt Erika Guevara-Rosas.
Allein das Ende der Feindseligkeiten zwischen Regierungstruppen und den FARC wird nur wenig dazu beitragen, diese Übergriffe zu stoppen. Dafür müssen die Behörden auch endlich wirksame Schritte unternehmen, um die bewaffneten Gruppen, die die Zivilbevölkerung weiter attackieren, zu bekämpfen und diejenigen, die sie in staatlichen Stellen, in der Politik und in der Wirtschaft unterstützen, vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen.
„Jedes Friedensabkommen, das tatsächlich dauerhaft Wirkung entfalten will, muss auch in enger Absprache mit den Personen, Gruppen und Gemeinden, die jahrzehntelang von diesem blutigen Konflikt betroffen waren, umgesetzt werden. Will es mehr sein als nur Worte auf Papier, darf es nicht hinter diesem Anspruch zurückbleiben“, so Erika Guevara-Rosas.
10 ZAHLEN ZU MENSCHENRECHTEN IN KOLUMBIEN
7,9 Millionen – Opfer des internen bewaffneten Konfliktes insgesamt; die Hälfte davon sind Frauen. (Angaben nach der Opfer-Behörde Unidad para la Atención y Reparación Integral a las Víctimas, UARIV, von September 2016)
6,9 Millionen – Vertreibungsopfer. (UARIV)
267.000 – Opfer von Tötungen im Zusammenhang mit dem internen bewaffneten Konflikt, die Mehrheit davon Zivilist_innen. (UARIV)
4.392 – Opfer mutmaßlicher außergerichtlicher Hinrichtungen, die Kolumbiens Generalstaatsanwaltschaft erfasst hat. (Angabe nach dem Kolumbien-Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, UNHCHR, von März 2016)
46.386 – Verschwundene. (UARIV)
29.622 – Entführte. (UARIV)
11.062 – Opfer von Antipersonenminen und Blindgängern. (UARIV)
8.022 – Kindersoldat_innen, die paramilitärische und Guerilla-Gruppen zwangsrekrutiert haben. (UARIV)
63 – Menschenrechtsverteidiger_innen, einschließlich Sprecher_innen indigener, afrokolumbianischer und kleinbäuerlicher Gemeinden, die 2015 ermordet wurden; in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 lag diese Zahl bereits wieder bei 52. (Angaben nach dem Netzwerk kolumbianischer Menschenrechtsorganisationen Programa Somos Defensores)
20 – Gewerkschafter_innen, die 2015 ermordet wurden. (Angabe nach der kolumbianischen Nichtregierungsorganisation Escuela Nacional Sindical, ENS)