Die Halbzeit-Bilanz der seit August 2022 amtierenden Regierung Petro fällt gemischt aus: Sie hat wichtige Initiativen für Frieden und Menschenrechtsschutz umgesetzt. Gleichzeitig gelingt es ihr kaum, Straflosigkeit und Korruption zurückzudrängen, die Präsenz ziviler staatlicher Stellen v.a. im ländlichen Raum zu stärken und die Bevölkerung vor Gewalt zu schützen. Wegen weltweiter Krisen wegbrechende internationale Mittel gefährden zunehmend die Arbeit der Zivilgesellschaft und die Finanzierung von Friedensprojekten.
Humanitäre Krise
Das IKRK beobachtet acht interne bewaffnete Konflikte in Kolumbien. Der NRO Indepaz zufolge konkurrieren mind. 23 nichtstaatliche bewaffnete Gruppen um die Kontrolle strategisch wichtiger Territorien, darunter paramilitärische Verbände, ELN-Guerilla, FARC-Splittergruppen sowie Drogenkartelle aus Kolumbien, Mexiko und Brasilien. Wegen Kämpfen zwischen Gewaltakteuren hält in vielen Landesteilen die humanitäre Krise an: OHCHR verifizierte für 2023 98 Massaker mit 320 Todesopfern. Mit über 13.550 Morden lag die Zahl an Tötungsdelikten 2023 auf dem zweithöchsten Stand seit 2013. 183.000 Menschen wurden laut UN 2023 vertrieben. Dazu kommen Zwangsrekrutierungen von Kindern (251 Fälle laut UN 2023), das Ausbringen von Minen sowie Angriffe auf Schulen und Gesundheitseinrichtungen. Frauen, Kinder und Jugendliche, ältere und arme Menschen, LGBTIQA*, kleinbäuerliche und ethnische Gemeinden, die sich ohnehin struktureller Diskriminierung ausgesetzt sehen, sind überproportional oft von Gewalt betroffen. Auch Geflüchtete v.a. aus Venezuela (rund 2,9 Mio. 2023), Haiti und Kuba erleben massiv Gewalt und Diskriminierung. 25% der Bevölkerung sind von Ernährungsunsicherheit betroffen (ca. 13 Mio. Menschen).
Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen (MRV)
Kolumbien galt laut Front Line Defenders 2023 als gefährlichstes Land für MRV weltweit. Mind. 168 MRV (davon 24 Frauen) starben dem NRO-Bündnis Programa Somos Defensores zufolge 2023 bei Mordanschlägen. Indepaz dokumentierte seit Abschluss des Friedensabkommens (2016) 1.533 Morde an MRV, 93 davon 2024. Die Angriffe bleiben fast immer straflos: Bei 1.333 von der Justiz untersuchten Morden an MRV zwischen 2002 und 2022 wurden in nur 179 Fällen (13%) die Verantwortlichen verurteilt. Das Verfassungsgericht stellte in einem wegweisenden Urteil fest, dass MRV anhaltender, schwerer und weitverbreiteter Gewalt ausgesetzt sind (Urteil SU-546, 06.12.2023). Trotz Reformen der Regierung weist das staatliche Schutzsystem viele Lücken auf: Schutzmaßnahmen werden zu langsam, unvollständig oder gar nicht bereitgestellt, Betroffene an deren Ausgestaltung kaum beteiligt. Die zuständige Nationale Schutzstelle (UNP) wurde bisher nicht reformiert. Den Sofortschutzplan für MRV (Plan de Emergencia) von 2022 hat die Regierung kaum umgesetzt und den Dialogprozess mit der Zivilgesellschaft (Proceso de Garantías) erst im Juli 2024 wiederaufgenommen. Das Programm für Kollektiv-schutz ländlicher Gemeinden (Dekret 660) und das Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidigerinnen (Resolution 0845) werden zumindest partiell implementiert. Positiv ist die Verabschiedung des Aktionsplans der Nationalen Kommission für Sicherheitsgarantien (CNGS) zur Auflösung paramilitärischer Gruppen.
Friedensprozesse
Die paz total-Politik bleibt äußert fragil. Die Regierung verhandelt mittlerweile mit acht bewaffneten Gruppen. Feuerpausen werden immer wieder gebrochen bzw. scheiterten nach wenigen Monaten. NRO beobachten, dass staatliche Sicherheitskräfte bei Kämpfen zwischen Gewaltakteuren wegen der mit einigen Gruppen vereinbarten Waffenstillstände nicht einschreiten, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Beteiligungsverfahren für Konfliktüberlebende und die Zivilgesellschaft existieren nur für die Gespräche mit dem ELN. Unklar ist, wie die Regierung Straflosigkeit und eine Legalisierung von durch Menschenrechtsverletzungen unrechtmäßig erlangtem Land und Vermögen verhindern will.
Trotz Anstrengungen der Regierung, den Friedensvertrag von 2016 entschiedener umzusetzen, waren bis November 2023 laut Kroc-Institute for International Peace Studies nur 32% der 578 Vereinbarungen vollständig, 49% hingegen minimal oder gar nicht implementiert. Große Defizite weisen Vorhaben auf, die den strukturellen Ursachen der bewaffneten Konflikte wie der Landkonzentration, der extremen sozialen Ungleichheit und der historischen Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen entgegenwirken sollen: Dazu zählen Maßnahmen für Gendergerechtigkeit (70% nur geringfügig oder nicht umgesetzt), zum Schutz ethnischer Gruppen und für eine Landreform (je 75% nur geringfügig oder nicht umgesetzt). Positiv ist die Regierungsinitiative, ein System zur Grundversorgung mit Lebensmitteln zu schaffen, welches mit Beteiligung der Bevölkerung das Recht auf Nahrung schrittweise verwirklichen soll (Gesetzentwurf 128/2023). Auch das im September 2023 eröffnete Verfahren zu gender-spezifischer Gewalt (Macrocaso 011) bei der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) ist ein Meilenstein. NRO und UN kritisieren aber, dass die JEP Überlebende nicht ausreichend an der Ausgestaltung von Alternativstrafen beteiligt. Zudem könnte die Priorisierung von Regionen und Tätern zu Straflosigkeit in vielen Fällen führen.
Weiterlesen – das gesamte Aide-Mémoire Kolumbien hier als PDF zum Download.
https://www.kolko.net/wp-content/uploads/2024/10/AideMemoire_August-2024.pdf
Alle 80 Aide-Mémoires des Forum Menschenrechte sind hier zu finden:
https://www.forum-menschenrechte.de/aide-memoires-2024/
Zur Pressemitteilung des Forum Menschenrechte zum Gespräch mit Außenministerin Baerbock geht es hier: